From: Till Seiler
Date: Sun, 11 Sep 2005 16:48:42 +0200

Till Seiler
Bundestagskandidat von Bündnis 90/Die Grünen im Wahlkreis Konstanz


Antwort auf Frage 1

Bündnis 90/Die Grünen haben die Potentiale der Wissensgesellschaft, die
die Bundesrepublik ausmacht, erkannt und sich mit ihren Bedürfnissen
auseinandergesetzt. Diese Bedürfnisse dürfen aus verschiedenen Gründen
nicht aus den Augen verloren werden. Zugang zu Wissen ist für den
Einzelnen eine der Grundvoraussetzungen für Teilhabe am
gesellschaftlichen Leben, sei es im Bereich der Arbeit oder der Kultur.
Die Bundesrepublik wird sich im Kontext der Globalisierung nur
positionieren können, wenn sie sich ihrer Stärken im Bereich der
Wissenserzeugung und -vermittlung und der wissensgestützten Produktion
und Innovation bewusst wird. Nicht zuletzt ist eine vernünftig
gesteuerte freizügige Zirkulation von Wissen, die dabei die Rechte der
UrheberInnen und VerwerterInnen nicht vernachlässigt, eine der
Hauptvoraussetzung für wissenschaftlichen Fortschritt und
wissenschaftliche Ausbildung.

Dessen sind sich Bündnis 90/ Die Grünen auch in der Abfassung und
Abstimmung ihres Wahlprogramms zur Bundestagswahl 2005 bewusst gewesen.
Themen wie Geistiges Eigentum, Regelung des Urheberrechts und
Wissenszirkulation sind Bestandteile unseres Programms, auch wenn sie
nicht unter einem eigenen Punkt dargestellt werden.

Bündnis 90/Die Grünen plädieren für eine "durchsetzungsstarke digitale
Privatkopie im Urheberrecht, die nicht durch Kopierschutzmaßnahmen
ausgehebelt werden darf." (Kapitel "Mehr Grün für Umwelt und
Verbraucher", Abschnitt "Digitale Daten der Verbraucherinnen und
Verbraucher schützen")
Diese Aussage bezieht sich in ihrem Zusammenhang zwar nicht auf die
Frage von wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung im
engeren Sinne, sondern auf die Interessen von VerbraucherInnen,
UrheberInnen und VerwerterInnen kultureller Güter im Allgemeinen. Was
wir jedoch für kulturelle Güter in abstracto geltend machen wollen,
gilt natürlich ebenso für wissenschaftliche Produktion in concreto,
ohne die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung nicht mehr
möglich ist.

Bündnis 90/Die Grünen bekennen sich zur "demokratische(n) und offene(n)
Informationsgesellschaft mit einer vielfältigen Medienlandschaft, an
der
alle teilhaben können." (Kapitel "Offene Gesellschaft und demokratische
Teilhabe - Bürgerrechte stärken", Abschnitt "Medien demokratisch
nutzen"). Voraussetzung dieser Teilhabe ist die Stärkung der Rechte 
und Möglichkeiten der NutzerInnen von Informationen sowohl was die
Gestaltung des Urheberrechts als auch was die
Partizipationsmöglichkeiten an technischen Medien angeht: "Wir wollen
Bürger- und Nutzerrechte ausbauen und gleichzeitig der Wirtschaft die
notwendigen Rahmenbedingungen für die Entfaltung von Innovationen zur
Verfügung stellen. Wir wollen den Zugang zum Internet für alle
Bürgerinnen und Bürger ermöglichen." (ebd.) Netzbasierung ist im
aktuellen Stadium der Wissens- und Informationsgesellschaft die
leistungsfähigste Form der Medialisierung von Wissensspeicherung und
-distribution.

Eine Möglichkeit der verstärkten politischen Thematisierung des Themas
"Geistiges Eigentum" liefert die eingangs gestellte Frage. Es kann
nicht
genug auf den Zusammenhang mit dem Bereich der wirtschaftlichen und
technischen Entwicklung verwiesen werden.


Antwort auf Frage 2:

Ich halte eine solche Regelung für möglich und wünschenswert. Wir
brauchen einen rechtlichen Rahmen, um Klarheit zu schaffen. Die
Ausweitung des Open Access-Prinzips ist zu befürworten, weil dadurch
die Vernetzung der WissenschaftlerInnen untereinander verbessert werden
kann. Hier geht es also um einen wichtigen Aspekt in Bezug auf die
Förderung der Wissenschaft.


Antwort auf Frage 3:

Das System der Informationsversorgung muss reformiert werden. Vor dem
Hintergrund der Tatsache, dass Bildung und Wissenschaft zu einem großen
Teil öffentlich finanziert werden, müssen die Rechte der NutzerInnen
gestärkt werden. So kann sichergestellt werden, dass von der
Gemeinschaft finanzierte Wissenschaft auch von der Gesellschaft breit
genutzt werden kann. Dieses Prinzip kann freilich nur funktionieren,
wenn die Informationsversorgung durch öffentliche Bibliotheken
sichergestellt ist. Aufgrund von massiven Sparmaßnahmen in diesem
Bereich ist diese Informationsversorgung gefährdet. Keinesfalls dürfen
kommerzielle Verlage ein Informationsmonopol erhalten, da die Freiheit
der Wissenschaft in diesem Fall massiv gefährdet wäre. 


Antwort auf Frage 4:

Der Forderung, das Digital Rights Management bei Wissensobjekten im
Bildungs- und Wissenschaftsbereich nicht greifen zu lassen, kann nur
entsprochen werden. Wissensobjekte kommen anders zustande als eine "No
Angels"-CD, werden zum allergrößten Teil auf andere Art und Weise
finanziert
und haben einen anderen gesellschaftlichen Nutzen.

Abgesehen davon, dass Bildung und Wissenschaft - zu Recht - öffentliche
Gelder in Anspruch nehmen und sich eine Verwertung deshalb auch nach
öffentlichen Interessen zu richten hat, widerspricht eine Übertragung
kulturindustrieller Methoden auf den Bereich der Wissenschaft dem
intrinsischem Wert von Erkenntnis und dem nicht bloß am Ergebnis zu
messenden Wege wissenschaftlicher Praxis. Dasselbe gilt
selbstverständlich für die Bildung.


Antwort auf Frage 5:

Die Wissenschaftsschranke muss erhalten bleiben. Eine Einschränkung des
Urheberrechts im Bereich der Wissenschaft ist gerechtfertigt, da
Ergebnisse aus wissenschaftlicher Forschung einer möglichst großen
Gruppe zur Verfügung stehen sollten   auch hier muss jedoch auf die
Bedeutung der hinreichenden öffentlichen Finanzierung der Wissenschaft
verwiesen werden. Wichtig ist ein eindeutiger rechtlicher Rahmen, der
die Informationsverfügbarkeit für Forschung, Lehre und Bildung
klarstellt.


Antwort auf Frage 6:

Die Recht der Urheber dürfen nicht eingeschränkt werden, Urheberrecht
muss Persönlichkeitsrecht bleiben und darf nicht zu einem Verwerter-
und Handelsrecht werden. Entwicklungen in diese Richtung beruhen auf
Unterfinanzierung in vielen Bereichen der Wissenschaft. 


Antwort auf Frage 7:

Der Wissenschafts- und Bildungsbereich muss öffentliche Aufgabe bleiben,
die von der öffentlichen Hand finanziert wird und öffentlich für alle
Interessierten zugänglich bleibt respektive zugänglich gemacht wird.
Privatisierung dieser Bereiche ist abzulehnen, da sonst die privaten
Verwertungsinteressen die Interessen der NutzerInnen - sowohl was
wissenschaftliche und Bildungseinrichtungen als auch was Einzelpersonen
angeht - klar dominieren. Folge wäre eine deutliche Einschränkung des
Zugangs zum Wissen, die sowohl vor dem Hintergrund eines allgemeinen
Umgangs mit Wissen als auch des wissenschaftlichen Fortschritts
verhehrende Wirkungen zeitigen würde. Auf einem Markt können sich
schließlich nur diejenigen etwas kaufen, die dazu auch die Mittel
haben.

Die unreflektierte Forderung nach umfassenden Subventionsverboten kann
nicht anders als ideologisch bezeichnet werden, wenn dadurch das
Gemeinwesen, in dem Individuen leben, und das die aufgeklärten
Interessen der Allgemeinheit verwaltet, in der Bewältigung seiner
Aufgaben beschnitten wird. Sicherstellung, Zugang und Weiterentwicklung
von Bildung und Wissenschaft, die schließlich den Kitt einer
Gesellschaft darstellen, gehören bestimmt zu diesen Aufgaben.

Freie Zirkulationsmöglichkeiten von wissenschaftlichen Erkenntnissen
und
freier Zugang zu Bildungsmöglichkeiten sind in ihrer Entwicklung auch
dazu bestimmt, das Herkunftslandprinzip, das der Domäne der
Privatwirtschaft entstammt, für Bildung und Wissenschaft obsolet zu
machen. Generierung und Abrufbarkeit von Wissen sind keine
Dienstleistungen, die nur dem individuellen Nutzen dienen.

Die Politik als Treuhänderin der Allgemeininteressen darf sich in
diesem
Feld von immenser sozialer und wissenschaftlicher Bedeutung nicht ihrer
Handlungsfähigkeit begeben, in dem sie zulässt, dass wissenschaftliche
Erkenntnisse und Bildungsmöglichkeiten ökonomischem
Verwertungsinteresse
überantwortet werden. Bildungs- und Wissenschaftspolitik, die von der
Bevölkerung legitimiert ist und über ihre Ziele und Mittel öffentlich
Rechenschaft abgibt, ist das geeignetste Instrument eines
verantwortungsbewussten Fortschritts.


Antwort auf Frage 8:

Von einer Lockerung strikter Regelungen des Urheberrechts werden die
Länder des Südens in Hinsicht auf die Entwicklung der dortigen
Bildungs- und Wissenschaftslandschaft mit Sicherheit profitieren. Eine
Intensivierung des Schutzes geistigen Eigentums wird die
Entwicklungsmöglichkeiten der angesprochenen Regionen eher
einschränken, da ihre Infrastruktur es im momentanen Stadium nicht
zulässt, Wissen in dem Maße und auf dem Niveau zu erzeugen oder - den
Urheberrechtsverordnungen der entwickelten Länder gemäß - zu erwerben,
wie es den entwickelten Ländern möglich ist.

Aufgabe einer globalen Wissenschaftspolitik, verzahnt mit einer
verantwortungsvollen Entwicklungspolitik, von der nicht zuletzt die
entwickelten Länder im Ergebnis ebenfalls profitieren würden, ist die
Sicherung eines freien Wissenstransfers. Dieser würde im Gegensatz zu
Subventionsverboten und Herkunftslandprinzipien garantieren, dass
Entwicklungsländer ihren gleichberechtigten Platz in der "Scientific
Communitiy" finden und ihre dort errungen bzw. eingebrachten Kenntnisse
zur Förderung ihrer strukturschwachen Regionen einbringen können.

Eine globale Bildungs- und Wissenschaftsoffensive hätte für das hiesige
Bildungssystem einen erheblichen Nutzen, da im medialen und personalen
Austausch von wissenschaftlichen Erkenntnissen und gut ausgebildeten
Individuen eine große Chance für den Fortschritt liegt. Diesen
Erkenntnissen wird es auch geschuldet sein, die aktuelle Formation der
kommerziellen Informationsmärkte zu überdenken und umzuwandeln. Die
rasante Entwicklung technischer Medien macht dies auch in der Praxis
möglich. Freier Wissensaustausch muss gegenüber der wirtschaftlichen
Verwertung von Wissen den Vorzug erhalten.